von Stefan » Sa 24. Mär 2007, 09:23
Graubart schaute nacheinander jede der vier Frauen an. Dann beugte er sich zu ihnen hinüber und flüsterte in einer, für einen Zwergen erstaunlich leisen Stimme: "Ich muss euch erst an einen anderen Ort führen, den nur ich kenne. Hier gibt es zu viele neugierige Mithörer." Er hob seine muskulöse Hand und gab der Schankmaid ein Zeichen. Er bezahlte die Zeche mit nur einer einzigen Münze. Kira starrte den Zwerg überrascht an. Nur eine Münze für alle Getränke? Und das war keine Goldmünze! Ein verstohlenes Lächeln huschte über ihre hübschen Züge.
"Kommt", meinte Graubart, nachdem die Schankmaid freudestrahlend die Mümze eingesteckt hatte. In einem einzigen Zug leerte er seinen Krug. Dann stand er auf und verließ die Kneipe. Einen Moment lang schauten sich die Frauen an, doch dann trank Kira ihren Becher leer und griff nach ihren Besitztümern und folgte dem Zwerg. "Worauf wartet ihr noch?", rief sie den anderen zu und eilte Graubart hinterher.
*
Es war stockdunkel in Tiafla. Immer wieder hallten die Rufe der Nachtwächter durch die schlafende Stadt. Graubart führte seine vier neuen Gefährtinnen in den Nordteil der Stadt. Dort wohnte die reiche Oberschicht, denn nur im Norden war der Gestank der Stadt zu ertragen. Durch Kanäle, die in der Mitte der Straßen verliefen, wurden die Abwässer von Norden nach Süden hin entsorgt. Zu diesem Zweck wurde der Caeslean, in dessen Biegung Tiafla errichtet worden war, zum Teil durch die Stadt umgeleitet. Durch Rohre, die unter der Stadtmauer hindurch führten, wurde sauberes Wasser in die Kanäle geleitet. Je weiter man in den Süden der Stadt kam, desto dreckiger wurde das Wasser in den Abwasserrinnen und umso schlimmer wurde der Gestank in der Stadt. Durch Rohre unter der südlichen Stadtmauer wurden die Abwässer anschließend wieder dem Caeslean übergeben, beladen mit einer unvorstellbaren Fracht an menschlichen und unmenschlichen Prudukten des täglichen Lebens. Eine Horde von Tagelöhnern war täglich damit beschäftigt, die Kanäle einigermaßen sauber zu halten. Nicht selten wurden Leichen aber auch Dinge von hohem Wert gefunden. Links und rechts von den Kanälen verliefen gepflasterte Wege, die durch schmale Stege verbunden waren. Nur die Haupthandelsstraßen durch die Stadt waren breit genug, dass Karren oder Pferdefuhrwerke genug Platz hatten. In den schmaleren Gassen wurden spezielle Karren mit großen Speichenrädern eingesetzt, die einen Abwasserkanal problemlos überqueren konnten. Kira war froh, dass der Zwerg sie in den Norden Tiaflas führte, denn die Luft in der Nähe der Hafenkneipe war kaum auszuhalten, zumal es in den letzten Tagen nicht geregnet hatte und die Abwässer vor sich hin faulten. Immer wieder hörte man ein Rascheln, das aus den Kanälen nach oben drang. Butterbottom schüttelte sich. Sie hatte durchaus schon Erfahrungen mit hungrigen Kanalratten gemacht.
Endlich blieb Graubart stehen. Die nördliche Stadtmauer ragte vor ihnen auf. Sie war an vielen Stellen über acht Meter hoch und überall mindestens genauso breit, denn Tiafla war eine reiche Stadt, die ihre Bürger und Schätze schützen musste. Der Zwerg drehte sich zu den Frauen um. "Da wären wir."
Kassandra schüttelte den Kopf. "Typisch Mann... was soll an diesem Ort denn besonderes sein? Links und rechts sind Häuser von reichen Bürgern dieser Stadt, vor uns ist die Stadtmauer. Und nun?"
"Ihr müsst mir vertrauen, werte Kassandra, Ihr schaut nicht genau genug hin." Dann blickte er zu dem anderen Frauen. Besonders die Halblingsfrau schaute er lange an. "Bevor ich euch weiter führe, muss ich euch darum bitten, dass ich ein Gaeas auf euch legen darf."
"Was soll das sein?" erboste sich Kira, die ungeduldig auf die Enthüllung des großen Geheimnisses wartete.
"Ein Gaeas ist eine magische Verpflichtung", entgegnete der Zwerg. "Das Gaeas, um das ich euch bitten werde, soll nur dazu dienen, dass ihr von den Dingen, die wir erfahren und erleben werden, nicht frühzeitig erzählt. Es geht um mächtige - und gefährliche -", das letzte Wort betonte Graubart besonders, "Ereignisse. Ich bitte euch, mir zu vertrauen. Das Gaeas endet, wenn wir unser Ziel erreicht haben, wenn ich sterben sollte oder wenn ich es von euch löse."
"Und was passiert, wenn ich doch davon erzähle?", fragte keck die Fee, die auf Lari-Faris Schulter saß.
"Dann werdet ihr alle Erlebnisse auf der Stelle vergessen, die uns auf unserer Reise widerfahren sind." Graubart schaute Butterbottom tief in die Augen. "Ich werde Euch zu nichts zwingen. Genauso wenig wie die anderen. Seid ihr bereit?"
Kira trat vor. "Nun macht schon, Zwerg. Es wird schon nicht weh tun."
Graubart zug einen kleinen Tiegel aus einem Lederbeutel an seiner Seite und öffnete ihn. Darin befand sich eine dunkelrote Salbe. Er tauchte seinen Zeigefinger hinein und rieb ein wenig davon auf Kiras Stirn. Dann murmelte er einige zwergische Worte und sprach auf Tell: "Dieses Gaeas sei Dir, Kira, auferlegt. Unsere Reise soll unser Geheimnis sein und keiner davon erfahren. Das Brechen des Geheimnisses wird Dein Fluch sein, denn Du wirst auf der Stelle alles vergessen, was auf der Reise geschehen ist." Bei diesen Worten kribbelte es an Kiras Stirn und die Salbe zog in die Haut ein, ohne dass eine Spur zurück blieb.
"Es hat gekribbelt, aber ansonsten fühle ich mich ganz normal", meinte Kira zu den anderen. Butterbottom verschwand von Lari-Faris Schulter, dass ein leises "Plopp" ertönte und tauchte kurze Zeit wieder auf. "Du bist magisch an Deiner Stirn, Kira", erklärte sie und flog dicht vor das Gesicht des Zwerges. "Ich brauche keins von deinen Gaeas-Dingsbums, ich verspreche Dir, dass ich nichts verrate, und wenn eine Fee etwas verspricht, dann hält sie ihr Versprechen auch. Ich bin schließlich eine Fee und Feen können nicht lügen."
Ich kann den Wasserhahn nicht zudrehen, wir haben zu Hause nur Hebel...